LINDNER STELLT KINDERGRUNDSICHERUNG IN FRAGE — UND MACHT EIN „ANGEBOT“

Berlin . Mit einem Programm für eine „Wirtschaftswende“, einem Mix aus Einschnitten bei Bürgergeld und Rente, Steuererleichterungen und Bürokratieabbau, will die FDP das Wachstum ankurbeln. Auf dem Parteitag unterbreitet Liberalen-Chef Lindner den Ampel-Partnern ein unerwartetes „Angebot“.

Der Slogan „Wachstum made in Germany“ prangt in großen Lettern hinter dem Redner. Dann wechselt der Buchstabe „m“ im Wort „Wachstum“ über zu einem „n“ — jetzt steht dort das Wortungetüm „Wachstun“. Die Parteitagsregie will damit offenbar ausdrücken, dass mehr getan werden müsse für ein höheres Wirtschaftswachstum, dem zentralen Thema dieses FDP-Parteitags.

Parteichef Christian Lindner hält sich mit dem vermeintlich originellen Wortspiel nicht auf. Er trägt das, was er in der kommenden Stunde zu sagen hat, vor der nüchternen Industriekulisse des früheren Berliner Postbahnhofs vor. Anders als man es von ihm kennt, trägt er kein Mikrofon am Kopf. Lieber hält er seine Rede an diesem Samstag auf dem FDP-Bundesparteitag in Berlin-Kreuzberg vom Stehpult aus, sein Manuskript hat er vor sich platziert.

Lindner hat sich für diese Parteitagsrede Sachlichkeit und Faktentiefe verordnet, sogar zwei Grafiken zur wirtschaftlichen Lage lässt er an die Wand projizieren. Die Menschen sollen ihn nicht als Populisten, sondern als Bundesfinanzminister erleben, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und sich ernsthaft um mehr Wirtschaftswachstum bemüht.

Mit einer „Wirtschaftswende“ will er das Land wieder auf Wachstumskurs bringen. Der Leitantrag der Parteiführung, den der Parteitag am Abend mit großer Mehrheit beschlossen hat, sieht eine Mischung aus Einschnitten bei Rente und Bürgergeld, Steuerentlastungen und Bürokratieabbau vor. Vor allem die SPD hat entrüstet auf die Vorschläge reagiert und die FDP gewarnt, Zweifel am Bestand der Koalition zu nähren.

Doch vom Ausstieg aus der Ampel ist bei Lindner an keiner Stelle die Rede. Die FDP dümpelt in Umfragen bei fünf Prozent, ein Ampel-Ausstieg könnte ihre Chancen noch verschlechtern. Sie konzentriert ihre Kräfte jetzt auf die Europawahl am 9. Mai, bei der die kämpferische Düsseldorfer Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann ein Achtungsergebnis erzielen soll.

Nur 0,3 Prozent Wachstum in diesem Jahr, nur noch ein halbes Prozent langfristiges Wachstumspotenzial – das sei zu wenig, sagt Parteichef Lindner. Er will das Potenzial, also die Wachstumsmöglichkeit, noch in dieser Wahlperiode auf ein Prozent verdoppeln. Sein Rezept: Den Soli für alle abschaffen, Bürokratieabbau, mehr Arbeitsanreize für Bürgergeldempfänger durch schärfere Sanktionen und für ältere Menschen durch Wegfall der Rente mit 63, Schluss mit der Förderung erneuerbarer Energien, ein Moratorium bei den Sozialleistungen.

Lindner berichtet von Besorgnis erregenden Entwicklungen. Als Beispiel nennt Lindner den baden-württembergischen Maschinenbauer Stihl, der lieber in der Schweiz als in Deutschland eine neue Fabrik bauen wolle, weil Beschäftigte dort länger arbeiten dürften. „Wir stehen uns zu oft selbst im Weg“, sagt Lindner. Unlängst habe der Internationale Währungsfonds (IWF) in Washington bei der Darstellung der globalen Wachstumsschwäche ein Foto ausgerechnet aus Berlin hinzugestellt. „Ich will, dass bei der nächsten IWF-Tagung Deutschland wieder als Beispiel für Wachstumsstärke präsentiert wird“, ruft der Finanzminister unter Beifall.

Stück für Stück geht Lindner durch, was aus seiner Sicht notwendig ist, um Deutschland wieder auf Trab zu bringen. „Der Bürokratiestress hat einen Vornamen: Ursula“, sagt Lindner in Anspielung auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die FDP will auch das Brüsseler Bürokratiedickicht bekämpfen, der Leitantrag enthält die Forderung nach einem großen Bürokratieabbaugesetz jedes Jahr.

Dann wechselt Lindner zu den ganz heißen Eisen für SPD und Grüne. Von Bürgergeld-Empfängern müsse man mehr Gegenleistungen verlangen, die Sanktionen für Jobverweigerer verschärfen – für die Koalitionspartner ist das ein Tabu.

Die FDP will auch die Rente mit 63 abschaffen, weil überwiegend gesunde Menschen mit höhere Renten sie scharenweise nutzen würden, sagt Lindner. Das Land könne sich nicht länger leisten, diese Fachkräfte vorzeitig zu verlieren.

Ein „Angebot“ habe er für die Koalitionspartnern bei der Kindergrundsicherung, so Lindner. Statt 5000 Beamte neu einzustellen und neue Bürokratie zu schaffen, möchte er die Partner dazu bringen, auf das Projekt zu verzichten. Die bereits eingeplanten zwei Milliarden Euro im Haushalt 2025 will Lindner statt in die Kindergrundsicherung in Kitas investieren. „Wäre es nicht besser, diese Milliarden einzusetzen in mehr und qualitätsvolle Kinderbetreuung, damit niemand gegen den eigenen Willen in Teilzeit verbleibt, weil man weiß, die Kinder sind gut untergebracht?“, fragt er. Das richtet sich an die Grünen, die sich von ihrem Lieblingsprojekt trotz aller Kritik nicht verabschieden wollen.

Die FDP fordert auch den Wegfall des Rest-Solis, der überwiegend von Unternehmen bezahlt werde. Es sei ungerecht, wenn die Regierung einerseits Industrieansiedlungen wie die des US-Halbleiterherstellers Intel in Magdeburg mit Milliarden subventioniere, der Mittelstand auf der anderen Seite aber leer ausgehe.

„Am Ende des Tages geht es bei der Wirtschaftswende auch um eine Mentalitätsfrage“, schließt der FDP-Chef. „Wir haben uns an spitzenmäßigen Lebensstand gewöhnt und spitzenmäßige moralische Ansprüche etwa bei der Ökologie. Dann muss man aber auch wieder spitzenmäßige Leistungen zeigen“, ruft Lindner. Die über 600 Delegierten danken ihm diese Rede mit vier Minuten langen Standing Ovations.

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